Dienstag, 28. Januar 2014

Von einem eisigen Morgen im Januar in einem Jahr wie jedes andere


Diesen Beitrag habe ich zum ersten Mal am 25.01.2013 veröffentlicht - aber, da er noch immer nicht weniger aktuell und heute wieder und noch Januar ist, wenn auch nicht überall eisig ...
„Ein eisiger Januar-Morgen. Noch ist es dunkel. Die dünne Schneedecke dämpft die Geräusche. Die winterliche Natur lädt uns zur Winterruhe, zur Rückbesinnung ein. Warum fühlen sich Menschen nicht als Bestandteil der Natur und ihrer Kreisläufe? Warum dürfen sie sich die Winterruhe nicht gönnen, wie alle anderen Geschöpfe?
Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Tagesanbruch ankündigen, stehen sie da, wie allmorgendlich, jahraus, jahrein, und warten auf den Bus. Vor sieben hat sie die Pflichterfüllung an diese Haltestelle gebracht: jene Schülerinnen und Schüler, die der Bus nun zur Schule befördern wird. Werden sie, die da so tapfer warten, auch so tapfer den Vormittag durchstehen, bis der Bus sie mittags wieder heimbringt? Oder wird bloß ihr Körper anwesend sein, indes ihr bereits belasteter Geist sich gegen die vielen Schreib-, Lese-, Rechen- und anderen unzähligen Aufgaben zur Wehr setzen wird? Wie anwesend sind Menschen, die unnötiges, unbrauchbares Zeug einpauken müssen – oder die sich langweilen?
Um solche Mißstände wissen wir. Wir wissen auch um die Widersinnigkeit solcher Lernmethoden. Ebenso wissen wir darum, daß solcher Tagesrhythmus weder gesundheitsgerecht ist noch förderlich für die Erfahrungsfreude. Wir sehen auch die anfängliche und allmählich schwindende Wißbegierde junger Menschen. Weshalb dann so ein Attentat auf die Lebendigkeit? Wie begründen?
Wie können wir ihr Stehen zur nächtlichen Winterstunde begründen? Mit dem Fahrplan, der an verkehrstechnische und personalbedingte Zwänge gebunden ist und sich an den schulischen Stundenplan anpassen muß, welcher wiederum die Erfordernisse der arbeitenden Bevölkerung zu berücksichtigen hat?
Begründen?
Oder sollen wir es damit begründen, daß sie, die 7-, 8- oder 15-, 16-jährigen (fahren sie danach nicht ohnehin mit ihrem Mofa umher?) früh dressiert und an Pflichten gewöhnt werden sollen – ‚wo kämen wir sonst hin, wenn wir uns nach dem Lustprinzip richteten?‘!
Oder begründen wir es damit, daß es so am bequemsten ist: die geliebten Kinder sind wir los, indem wir sie sinnvoll beschäftigt wissen! Nun können wir all unsere Ideale auf sie übertragen, insbesondere jenes, daß sie es mal besser haben sollen, wofür wir uns aufgeopfert haben. Los-Sein: die Lösung, die unser Gewissen und unsere Nerven entlastet. Sich der Schule zu entledigen, würde fürwahr das Ende der Bequemlichkeit bedingen und einläuten!
Dies ist eine der Seiten eines vielfältigen Spannungsverhältnisses, und zwar die Seite, die uns betrifft. Diese Seite könnte uns dazu bewegen, die Schule zum Inbegriff des Bösen zu erheben, uns mitschuldig an ihrem Wirken zu fühlen. Wie naheliegend die Verführung, eine geschickte Verschwörungstheorie aufzubauen! Sind denn diese Kinder, die da auf den Bus warten, nur Projektionsobjekte unserer leidvollen Vergangenheit, an denen wir uns entschädigen, uns also schadlos halten? Sind sie nur Übertragungsempfänger hehrer Ideale? Wer gibt uns das – nach Überheblichkeit stinkende – Recht zum Mitleid mit ihnen?
Sind sie, die bei dunkler und kalter Nacht zur Schule fahren, nicht auch selbstbestimmte Träger und Präger ihrer Lebendigkeit, ihres Hoffens, ihres Handelns? Wer sagt uns, daß sie nicht auch anders handeln könnten, wenn sie wollten? Wer sagt uns, daß sie nicht sogar freiwillig zur Schule fahren, darauf wartend, auch bald selber an der ihnen im Augenblick vorenthaltenen Macht teilhaben zu können? Daß sie froh sind, dem Elternhaus zu entfliehen, um mit netten Menschen zusammenzukommen? Vielleicht ist ihnen der Schulalltag sogar ‚wurscht‘, nachdem sie seine Verlogenheit erkannt haben und sie das Rollenspiel der bestmöglichen Anpassung, als Grundlage für Erfolg, so meisterhaft beherrschen, daß sie ihre Ruhe haben? Was artikuliert der Spruch: ‚Sie wollen nur unser Bestes – doch wir werden es ihnen nicht geben!‘?
Es ist gleichgültig, ob sie aufgrund subtiler Manipulationen, wie ich sie weiter oben dargestellt habe, wollen sollen, was sie tun, oder ob sie von innen heraus wollen, was sie müssen. Der Konflikt offenbart sich erst, wenn sie nicht wollen, wenn sie nicht wollen.“


Dieser Text entstammt dem Beitrag Stell dir vor es ist Schule – und niemand geht hin! des Philosophen Bertrand Stern (enthalten in dem von Johannes Heimrath herausgegebenen Sammelband Die Entfesselung der Kreativität – Das Menschenrecht auf Schulvermeidung). Auf der Rückseite des Buches heißt es:


„Dieser Sammelband basiert auf Vorträgen, die auf einem Symposium des Vereins ‚Freies Lernen ohne Schulzwang (FLOSZ)‘ im Juni 1987 sowie auf dem 6. Regensburger Kongreß im Oktober 1987 gehalten wurden. (…)
Der Band greift  den hochaktuellen und gesellschaftspolitisch brisanten Bereich der Entschulung und Entstaatlichung des Bildungswesens auf. Er liefert provokative Thesen zur Begründung und Notwendigkeit einer freien Bildung in einer offenen und demokratischen Gesellschaft.“


 1987! Vor 25 Jahren, einem viertel Jahrhundert!

In der Zeit zwischen beiden Veranstaltungen, auf denen der Band basiert, bin ich eingeschult worden, genauer am 1. September 1987 (meine kleine persönliche Anekdote dazu am Rande: In der Nacht zum 1. September bin ich mit fürchterlichen Bauchschmerzen aufgewacht und habe mich übergeben müssen. Diese Begebenheit ist mir sehr im Gedächtnis geblieben und für mich heute von höherer symbolischer Bedeutung als damals ...)
Was mich wirklich entsetzt, ist die Erkenntis, dass schon vor so langer Zeit von engagierten Menschen, die sich für eine freie, dem Menschen würdige und ihn würdigende Bildung einsetzten, etwas beschrieben und aufgegriffen wurde, woran sich anscheinend bis heute rein gar nichts geändert hat. Im Gegenteil: Die Notwendigkeit einer freien Bildung ist in meinen Augen heute von größerer Brisanz als je zuvor!

Was geschieht, wenn sie nicht wollen? Dürfen sie nicht wollen?
Im Jahr 2012 (dem Jahr, in dem die Welt nicht unterging, somit wir also weitere Gelegenheit haben, sie zu verbessern, indem wir uns z.B. über die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte Gedanken machen) stellte Bertrand Stern in einem Vortrag seinem Publikum diese Fragen. 

"Unsere Schulgesetze (Ländergesetze) sagen nein. Unser Grundgesetz sagt ja." 

Und nun?    


***
 Nachtrag am 28.01.2014

Zitat aus dem Beschluss eines Familiengerichts aus dem Jahre 2013:

„... dem steht auch nicht entgegen, dass die Kinder auch in ihrer persönlichen Anhörung geäußert haben, die Schule nicht mehr besuchen zu wollen, denn aufgrund ihres Alters sind sie schon objektiv nicht in der Lage, die Tragweite einer solchen Entscheidung einschätzen zu können ...“
***


 „Allein wie halten Sie es mit der Annahme, da der junge Mensch doch nur ein ‚Kind‘ sei, könne er unmöglich entscheiden, was jetzt und vor allem später wichtig ist? Dies beleidigt nicht alleine die Potenz des Menschen; dieser eklatante Verstoß gegen die Grundzüge unserer Verfassung ist zumindest skandalös – wenn nicht sogar kriminell!“ (S. 22)
 
„Wird aber der Subjekt-Status infragegestellt, dann verkommt die Person zum Objekt, das seine autonome Selbstdefinition – eben weil er Mensch ist – abgibt an eine äußerlich orientierte Definitionsmacht. Der Unterschied ist gravierend, denn der Status als Objekt bedingt jene heimlichen und unheimlichen Herrschaften, die mit dem stets auftauchenden Alibi des Wohlmeinenden vorgeben, das Objekt zum Guten, zum Besseren hin zu führen…“

„das Fundament einer freiheitlichen Demokratie, die ihr Selbstverständnis in eine Verfassung kleidet, ist die Bedingungslosigkeit und Unbedingtheit des Subjektstatus der Person. Dieser Status ist an nichts gebunden, an keine Leistung und Vorleistung, an kein Alter (und keine Jugend!), an keinen Ursprung, an kein Geschlecht… Im Sinne des Grundgesetzes ist die Person ein Mensch, eben weil er ein Mensch ist – Punktum! Sollte diese Unbedingtheit als Vorzeichen der demokratischen Verfaßtheit Geltung haben, so gilt sie in besonderer Weise für Menschen, die aus welchen Gründen auch immer in der Gefahr stehen könnten, ohne die staatlichen (Verfassungs-)Garantien ‚unter die Räder‘ zu kommen: Deshalb müssen gerade junge Menschen als Subjekte anerkannt und respektiert werden, dies gilt ganz besonders in Hinblick auf ihre freie Entscheidung. Auch wenn Sie, als pädagogisch Denkende und Handelnde, es sich nicht vorstellen können, weil sie davon womöglich ausgehen, der junge Mensch wäre gar nicht fähig, frei zu entscheiden, weil er die Konsequenzen noch gar nicht absehen könnte: Wenn die Begriffe Mensch, Freiheit und Würde… etwas bedeuten sollen, dann müssen sie ernst genommen werden – oder aber sie sind widersinnig, sinnentleert, nur eine Worthülse, eine Lüge, eine Selbsttäuschung. Zur Verdeutlichung: Bedingt die Parole ‚Freiheit‘ nicht geradezu, daß jemand eine Entscheidung auch dann fällen darf, wenn eine andere Person diese Entscheidung als verkehrt betrachtet und diese zu akzeptieren vermag? Haben Männer über Jahrhunderte nicht vorgegeben, aus einem gewiß wohlmeinenden Patriarchat heraus zu wissen und entscheiden zu können, was für Frauen, die nicht als Subjekte galten und anerkannt wurden, das Richtige und das Gute sei? […]

Nochmals: Sind Schüler wirklich auch Menschen? Die Frage läßt sich leicht beantworten: Schenkt ihnen das postulierte Menschsein wirklich die Möglichkeit, selbstbestimmt, würdevoll und kompetent zu entscheiden, was sie wollen? Nehmen wir als ein Beispiel die natürliche Wissenslust, die Offenheit, die sozialen Fähigkeiten des Menschen: Kann nun eine jede Person selbstbestimmt entscheiden, wann sie was von wem und mit wem und in welcher Weise erfahren möchten? Oder werden sie zu Schülern gemacht?“ (S.50f)


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