Freitag, 15. November 2013

Über die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu können

Der Psychologe Prof. Dr. Peter Gray schrieb einen wundervollen Artikel mit dem Titel The Most Basic Freedom Is Freedom To Quit (Die grundlegendste aller Freiheiten ist die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu können), in welchem er beschreibt, was es für die Mitglieder einer Gemeinschaft bedeutet, wenn jeder Einzelne diese Freiheit hat - oder eben nicht hat - und welche Auswirkungen dies auf das Vorkommen von Gewalt hat. So naheliegend und faszinierend zugleich!

Den Abschnitt, in welchem er beschreibt, welche traurigen Folgen es für Kinder hat, dass sie diese Freiheit eben nicht haben, möchte ich hier darstellen. Den kompletten Artikel findest Du hier.

Im Allgemeinen sind Kinder die Gruppe Menschen, die am meisten Gewalt erfährt, nicht etwa, weil sie klein und schwach sind, sondern weil ihnen nicht – etwa wie Erwachsenen – dieselben Freiheitsrechte eingeräumt werden, insbesondere die Freiheit wegzugehen. Anthropologen zufolge ist dies in Jäger-und-Sammler-Kulturen nicht in gleichem Maß der Fall: Dort werden Kindern annähernd dieselben Möglichkeiten zugestanden wie Erwachsenen. Kinder, die von ihren Eltern lieblos behandelt werden, können in eine andere Hütte ziehen zu anderen Erwachsenen, die sie freundlich behandeln. Sie können sogar in eine andere Gemeinschaft ziehen. Jäger und Sammler sind nicht der Ansicht, dass Eltern ihre Kinder besitzen. Beinah jeder genießt die Gegenwart der Kinder und die gesamte Gemeinschaft teilt sich die Pflege eines jeden Kindes; Kinder sind dort keine Last. Sogar sehr junge Kinder, die von einem Elternteil oder einer anderen Pflegeperson misshandelt werden, können von dieser versorgenden Person wegziehen oder woandershin mitgenommen werden und Sicherheit in den Armen anderer finden. Dies trifft auf unsere Gesellschaft nicht zu, und häusliche Gewalt gegenüber Kindern ist hier ein ernstzunehmendes und anhaltendes Problem.
Aber nun möchte ich mich der Gewalt zuwenden, die wir unseren Kindern zufügen, indem wir sie in Schulen zwingen. Wenn der Schulbesuch verpflichtend ist, sind Schulen definitionsgemäß Gefängnisse. Ein Gefängnis ist ein Ort, an dem jemand sich zwangsweise aufhält und an dem Menschen ihre Aktivitäten, (Spiel)Räume oder Partner nicht selbst wählen dürfen. Kinder können die Schule nicht verlassen und innerhalb der Schule können sie gemeinen Lehrern, unterdrückenden und sinnlosen Aufgaben oder grausamen Klassenkameraden nicht entgehen. Für manche Kinder ist der einzige Ausweg – der einzige wirkliche Weg zu gehen – der Selbstmord. In ihrem Buch The Scarred Heart („Das vernarbte Herz“) beschreibt die Autorin Helen Smith den Suizid eines 13jährigen Mädchens, welches in der Schule regelmäßig gemobbt wurde: „Nachdem sie 53 der erforderlichen 180 Schultage versäumt hatte, wurde ihr gesagt, sie müsse in die Schule zurückkehren oder vor einem Gremium für Schulschwänzer erscheinen, welches sie in eine Jugendstrafanstalt schicken könnte. Sie entschied, die bessere Alternative sei, in ihr Schlafzimmer zu gehen und sich mit einem Gürtel zu erhängen. … In früheren Zeiten hätte sie einfach die Schule abbrechen können, aber heute sind Kinder wie sie durch die Schulpflicht gefangen.“
Es ist schon viel gesagt worden über Mobbing in der Schule und andere Probleme, die mit Schule zusammenhängen, wie allgemeine Unzufriedenheit von Schülern, Langeweile und Zynismus. Bisher hat niemand einen Weg gefunden, diese Probleme zu lösen, und niemand wird einen solchen jemals finden, bis wir Kindern die Freiheit zugestehen wegzugehen. Um diese Probleme endlich und endgültig zu lösen, gibt es keine andere Möglichkeit, als den Zwang abzuschaffen.
Wenn Kinder wirklich die Freiheit haben, sich von der Schule zu verabschieden, wird das Weiterbestehen der Schulen davon abhängen, dass sie zu kinderfreundlichen Orten werden. Kinder lieben es zu lernen, jedoch hassen sie es – wie wir alle! – gezwungen, penibel überwacht und andauernd bewertet zu werden. Sie lieben es, auf ihre eigene Weise zu lernen, nicht auf eine Art, die andere ihnen aufzwingen. Schulen werden – wie alle Institutionen – nur dann zu ethisch vertretbaren (Bildungs-)Einrichtungen werden, wenn die Menschen, denen sie dienen, nicht länger deren Häftlinge sind. Wenn Schüler die Freiheit haben wegzugehen, werden Schulen ihnen weitere grundlegende Menschenrechte zugestehen müssen, etwa das Mitspracherecht bei Entscheidungen, die sie betreffen, das Recht auf Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Recht, ihren eigenen Weg zum Glücklichsein zu wählen. Solche Schulen hätten keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den trostlosen Institutionen, die wir heute „Schulen“ nennen.


Vor zwei Jahren veröffentlichte ich hier einen Beitrag mit ähnlichem Inhalt: "Du musst doch mal etwas zu Ende bringen, was Du angefangen hast!"

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Gedanken einer "Schulhasserin"

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